Fotoshooting am „Sexy-Tempel“

Die Pagodendächer der verschiedenen Tempel auf dem alten Königsplatz in Kathmandu bilden einen reizvollen Kontrast zum strahlend blauen Himmel. Die leuchtend roten Stoffgirlanden flattern im Wind. Große Scharen von Tauben tummeln sich zwischen den Tempeln und warten darauf, gefüttert zu werden. Frauen in wunderschönen Gewändern schlendern über den Platz, Männer sitzen in einer Runde und plaudern. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Selbst die Risse in den Mauern und die großen Trümmerhaufen stören diese Idylle nicht.

Etwas abseits zwischen der Statue des Kal Bhairavs und dem Nordflügel des Königspalastes steht der Jagannath-Tempel, der ursprünglich dem Gott Vishnu geweiht wurde. Immer wieder findet man eine kleine Gruppe Teeanager, die kichernd um den Tempel schlendern. Ist er doch vor allem bei den jungen Leuten als ‚Sexy-Tempel‘ bekannt. Nicht ohne Grund, wie ich auf den zweiten Blick sehen konnte.

Auf den ersten Blick unterscheidet sich der Tempel kaum von seinen ‚Kollegen‘ auf dem Königsplatz. Die rostrote Farbe der Ziegel verschmilzt nahezu mit der über die Jahre gewachsenen Patina der Holzelemente. Die nach allen vier Himmelsrichtungen ausgerichteten Türen symbolisieren die Offenheit für alle Menschen und sind mit kunstvollen Schnitzereien verziert. Lässt man dann jedoch den Blick nach oben zu den imposanten Dachbalken schweifen, dann erkennt man sofort, wie der Tempel zu seinem Spitznamen kam.

Jeder einzelne der 48 Dachbalken stellt eine Pose aus dem Kamasutra dar – und nicht etwa nur schemenhaft angedeutet, sondern mit einer Detailtreue, die so manchem Besucher die Schamesröte ins Gesicht treibt. Während in der westlichen Welt die Begriffe Tantra und Kamasutra oft nur dazu benutzt werden, um ein Geschäft, ein Massagestudio oder ähnliches gut ‚zu verkaufen‘ oder selbsternannte Gurus ihre speziellen Neigungen unter dem Deckmäntelchen östlicher Philosophie ausleben, so hat die tandrische Tradition in Nepal und Indien jahrhundertealte Wurzeln.

Die Vereinigung von Mann und Frau dient nicht nur der Zeugung von Nachkommen oder der Befriedigung der Lust, sondern vor allem der Stärkung jedes einzelnen Individuums und wird oftmals als heilige Handlung zelebriert. Ähnlich wie Yin und Yang in der chinesischen Philosophie, so stehen im Hinduismus männliche und weibliche Kräfte  einerseits als gegensätzliche, andererseits als sich ergänzende Prinzipien zueinander. Deshalb bekam auch so ziemlich jeder Gott eine Shakti zugeteilt, wie zum Beispiel Vishnu seine Ehefrau Laxmi. Selbst im Buddhismus wurde dieses Prinzip aufgegriffen. So stellt man hohen Mönchen eine ‚Gefährtin‘ an die Seite, damit diese auf dem Weg zur Vollkommenheit weibliche Energie tanken können.

Wenn man sich die Schnitzereien genau anschaut, so bemerkt man teilweise große Risse im Holz. Ebenso ziehen sich lange Risse durch das Mauerwerk. Das Innere des Tempels ist aus Sicherheitsgründen schon gar nicht mehr begehbar. Es bedarf keiner großen Fantasie um sich vorzustellen, was bereits eines der kleineren Nachbeben anrichten kann. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses historische Juwel zusammenbricht und wertvolles Kulturgut begraben wird.

Mein Freund Chandra ist ein renommierter Fotograf. Er hatte mir bereits im vergangenen Jahr erzählt, dass er sämtliche dieser kunstvollen Schnitzereien fotografieren, dokumentieren und in einem Bildband zusammenfassen will. Chandra hatte mich gebeten, die Texte für die deutschsprachige Ausgabe zu schreiben.

Natürlich wird auch die UNESCO ihren Teil dazu beitragen, um die Stätten des Weltkulturerbes zu bewahren bzw. wieder aufzubauen. Aber bei solch großen Organisationen herrscht natürlich auch große Bürokratie. Es wird sicher Jahre dauern, bis da eine Entscheidung getroffen und mit erforderlichen Aktionen begonnen wird.

Momentan können wir aufgrund des Spritmangels nicht in die Einsatzgebiete vordringen. Deshalb haben wir mit Chandra und Alok, einem Filmemacher, die Zeit genutzt und Ideen gesammelt, wie wir unser Projekt zur Bewahrung dieses kostbaren Kulturgutes umsetzen können. Und natürlich hoffen wir, mit dem Verkauf dieser Dokumentation einen monetären Beitrag zum Wiederaufbau des Landes leisten zu können.

Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt – und dieser war in unserem Fall ein spannendes Fotoshooting am Sexy-Tempel.

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